Vereinzelte Mauern gab es im Ruhrgebiet bereits vor über 1500 Jahren. Doch seit rund 250 Jahren gibt es mehr und mehr davon. Aber Eidechsen, die an senkrechten Mauern hinauf und hinab flitzen? Die gibt es im Ruhrgebiet erst seit wenigen Jahrzehnten. Es sind Mauereidechsen aus Südeuropa. Sie sind heute die häufigsten Eidechsen im Zentrum des Ruhrgebiets, denn sie nutzen neue Lebensräume, die für hier einheimische Wald- und Zauneidechsen offenbar unattraktiv sind: Industriebrachen alter Stahl-Standorte, Steingabionen am Rhein-Herne-Kanal sowie die Uferböschungen des Duisburger Innenhafens.
Das Wichtigste: Sonne!
Eidechsen sind Sonnenanbeter! Sie benötigen Wärme, um „auf Touren“ zu kommen. Praktisch bedeutet das, sie müssen von außen gewärmt werden um leben zu können. Ihre natürliche Heizung ist die Sonne, daher ist es wichtig, dass ihre wärmenden Strahlen tatsächlich bis zum Boden kommen.
Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt besuchte 1961 das Ruhrgebiet – und stand unter einer trüben Dunstglocke. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er in diesem Moment an Eidechsen dachte, wohl eher an die Nasen seiner Stamm-Wähler, der Arbeiter im Ruhrgebiet. Denn schwefelhaltige und stinkende Rauchgase aus mehr als eintausend Schloten verdunkelten damals viele Wochen im Jahr die Sonne und verursachten den sauren Regen. „Ich will, dass der Himmel über dem Ruhrgebiet wieder blau wird“ soll Willy Brandt damals gesagt haben.
Heute ist der Himmel über dem Ruhrgebiet tatsächlich wieder blau und die letzte Smog-Warnung ist mehr als 30 Jahre her. Auch deswegen beten heute wieder Zaun- und Waldeidechsen die Sonne am blauen Himmel über der Ruhr an. Außerdem die Blindschleiche, eine beinlose Eidechse, die in dieser Region auch Schleiche genannt wird. Und etwa seit der Jahrtausenwende ist nun eine vierte Eidechsenart hinzugekommen: Die Mauereidechse.
Klimawandel-Gewinner
Die Mauereidechse ist neu im Emschertal zwischen Lippe im Norden und der Ruhr im Süden, denn sie war ursprüngliche gar keine Ruhrpöttlerin. Sie war und ist Spanierin, Französin, Italienerin, Ex-Jougoslawin, Österreicherin, Schweizerin, Rumänin, Bulgarin, Griechin und Türkin. Und sie ist eine Südwestdeutsche aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Außerdem stammt sie aus einigen Orten im südwestlichen Nordrhein-Westfalen, der Eifel und dem Siebengebirge. Überall dort flitzt sie an Felsen und Mauern herauf- und herunter, was ihr den deutschen Name „Mauer“-Eidechse und die wissenschaftliche Art-Bezeichnung „muralis“ verlieh.
Wie aber kam sie bis ins Ruhrgebiet? Genau weiß das niemand, doch die Fachleute haben einige Theorien: Eidechsenliebhaber setzten die flinken Mauerrenner hier aus oder sie gelangten als blinde Passagiere über den Gütertransport per LKW, Eisenbahn und Frachtschiff ins Ruhrgebiet. Wahrscheinlich fällt allen Varianten eine gewisse Rolle bei der Besiedlung des Ruhrgebiets zu. Deswegen ist auch klar, dass bisherige genetische Untersuchungen der Ruhrgebiets -Mauereidechsen auf kein eindeutiges Herkunftsgebiet hinweisen. Fest steht: Jetzt sind sie hier. Und sie bauen in den besten Sonnenlagen und wärmsten Ecken im Revier seit Jahren bereits stabile Populationen mit jährlichem Nachwuchs auf. Damit gilt die mediterrane Eidechse auch als „Klimawandel-Gewinnerin“, etwa so wie bestimmte Spinnen (Wespenspinne) und Heuschrecken (Weinhähnchen, Blauflügelige Ödlandschrecke), die mittlerweile zur ganz selbstverständlichen Fauna im Ruhrgebiet zählen, insbesondere auf warmen, sonnenbeschienenen Industriebrachen.
Neue Eidechsen finden neue Mauern
Bei den neuen Wohnorten der Eidechsen bestätigt sich die Regel, dass neue Tierarten mit einer gewissen Vorliebe neu entstandene Lebensräume suchen: An einigen Abschnitten am Nordufer des rund 100 Jahre alten Rhein-Herne-Kanals, der das Ruhrgebiet von West nach Ost durchzieht, gibt es seit einiger Zeit ganz besondere Mauern aus sogenannten „Steingabionen“.
Dies sind mit Steinen gefüllte Drahtkörbe, die zunehmend auch im Garten- und Landschaftsbau die herkömmlichen Steinmauern ersetzen (Das Wort Gabbione kommt aus dem Italienischen und bedeutet großer Käfig). Am Kanal dienen sie zur Befestigung von Dämmen und Uferböschungen.
Die lockeren Steinpackungen bilden zahllose Spalten und Nischen, in denen sich Mauereidechsen verstecken können, das Metall-Drahtgeflecht schützt die flinken Eidechsen vor Hunden, Katzen, Menschen und Greifvögeln.
In Oberhausen, nahe dem Gasometer und der Oberhauser Shopping-Mall „CentrO“ säumen mehrere hundert Meter lange Mauern aus Stein-Gabionen das Nordufer des Rhein-Herne-Kanals, die für Mauereidechsen nahezu ideal sind: Keine zehn Meter entfernt liegt das Ufer des Kanals mit reichlich Trinkwasser, am warmen, südexponierten Mauerfuß ist nichts asphaltiert und der lockere Boden ist bestens geeignet, um die Gelege einzugraben, die von der Sonne ausgebrütet werden. Auf der anderen Seite, an den Mauerkronen, schließen sich Hecken und offenes Grasland mit reichlich Insekten an.
Die Sonne muss bleiben
Der Smog kommt nicht mehr zurück und die Sonne wird auch künftig bis auf den Boden scheinen. Was also sollte die Mauereidechse noch aus der Ruhe bringen? Der Wald und der Mensch! Denn die natürliche Waldentwicklung setzt vielen Sonneninseln auf ganz natürliche Weise ein Ende. Um so wichtiger ist es, diese Orte „offen“ zu lassen. Das Bepflanzen von sonnigen Böschungen, Halden oder Bahndämmen nimmt dem neu gewonnenen Mitbewohner seinen Lebensraum. Dabei wäre es doch wünschenswert, den Mauereidechsen ihr neu entstandenes zu Hause zu erhalten. Übrigens: Nicht nur die Mauereidechse freut sich über offene und sonnige Standorte, auch viele liebgewonnene Mitbewohner sind auf diese Räume angewiesen, dazu gehören etliche Schmetterlingsarten, Flussregenpfeifer und Steinschmätzer und weitere Tiere, Pflanzen und Pilze. Wäre es nicht schade, wenn wir die neu entstandene Vielfalt bald wieder verlieren würden?
Text: Peter Schütz
Alle Bilder: © Wildes Ruhrgebiet – Peter Schütz